Das weiße Band, Michael Haneke, 2009 Das schüchterne Mädchen, das Kind und der Dorftrottel In Hanekes jüngstem Film „Das weiße Band“ verbirgt sich die Lösung in NebenrollenHandlung 1913/14: In Eichwald, einem protestantischen Dorf, ereignen sich unerklärliche Gewalttaten. Der Arzt verunglückt mit seinem Pferd wegen eines fast unsichtbar über den Weg gespannten Seils. Der Sohn des Barons und ein geistig zurückgebliebener kleiner Junge werden grausam misshandelt. Die Frau des Tagelöhners verunglückt tödlich, ihr Sohn dreht durch, ihr Mann erhängt sich. In der Nähe der Opfer taucht pünktlich, angeführt von der Tochter des Pfarrers und ihrem Bruder, eine Kinderschar auf. Die Kinder bieten heuchlerisch ihre Hilfe an, wenn es zu spät ist Im Laufe des Films verdichtet sich der Verdacht, dass sie der Ursprung aller Schrecken sind. Der Dorflehrer kommt ihnen auf die Spur. Der misshandelte kleine Idiot hat als erster und einziger seine Peiniger beim Namen genannt. Seine Mutter fährt auf dem Rad, das sie dem Lehrer abgetrotzt hat, in die Stadt, um die Polizei zu rufen. Der Lehrer spricht nun offen mit dem Pfarrer. Der droht ihn wegen Verleumdung anzuklagen. Der Pfarrer hat gute Gründe dafür, die Affäre totzuschweigen. Ist er nicht selbst Ausgangspunkt der Gewalt mit seiner bigotten, autoritären und heuchlerischen Erziehung? Nachdem er sie für ein kleines Vergehen brutal verprügelt hat, zwingt er seine Kinder, sich mit einem weißen Band am Ärmel öffentlich als Missetäter zu bekennen. Der Pfarrer garniert gern seine Brutalität mit Moralpredigten. Die vergewaltigte Kinderseele macht sich in der Misshandlung anderer Luft. Zur Übernahme von Verantwortung für ihr Tun bringt sie so niemand. Fragen Darum bleibt alles, was so „klar“ scheint, fragwürdig. Der Zuschauer muss sich auf eigene Verantwortung die Dinge zusammenreimen. Haneke macht es ihm bewusst schwer. Er beschreibt in der Dorfnussschale konsequent eine autoritär erzogene, strukturierte, agierende Gesellschaft. Dazu gehört das Schweigen, Verschweigen, Weggucken und Zulassen. Der Zuschauer bleibt mit einem Bündel Fragen allein zurück. Weggucken und Verschweigen sind ja nicht vergangen. Auch heute muss man sich eigenverantwortlich einen Reim auf den Ursprung der Gewalt machen. Wer wagt da, etwas auf die Aussagen eines Opfers, eines Außenseiters, eines unmündigen Idioten zu geben? Aus einem anfänglichen „Was war?“ wird leicht „War was?“ Am Anfang des Films heißt es, dass im Dorf Dinge geschehen sind, die zur Klärung späterer Ereignisse beitragen können. Wie? Für welche? Das wird nicht gesagt. Hanekes faszinierende Filmerzählung in Schwarzweiß ist kein Holzschnitt. Sie bleibt rätselhaft und anspielungsreich. Haneke geht es hier wie in seinen anderen „kodierten“ Filmerzählungen nicht darum, einen spannenden Kriminalfall zu erzählen. „Code: Unbekannt“ ist der Titel eines seiner sozialkritischen Filme – und häufig sein Erzählprinzip. Der Lehrer – nachsichtig, klug, einfühlsam – kommt den Ursachen des Geschehens am nächsten. Doch ist er - selbst Teil der Dorfhierarchie - unschuldig schuldig verstrickt. Sein Wissen bleibt hilflos. Er geht in den zeitgleich zum Dorfgeschehen ausbrechenden Weltkrieg, überlebt, kommt aber nie wieder nach Eichwald zurück. Der Zuschauer erfährt nicht, ob der Lehrer etwas gelernt hat. Er weiß allerdings, dass er und seinesgleichen nichts verhindert haben. Da bleibt es ein schwacher Trost, dass Haneke in drei Nebenrollen des Films womöglich die Alternative zum dörflichen Mikrokosmos, der die Welt bedeuten könnte, verborgen hat. Lösung Eva, die Verlobte des Lehrers, kommt von außen und bleibt außerhalb des Kreises der Gewalt. Ihre Sanftmut und ihr Liebreiz schlagen den Zuschauer in den Bann. Als ihr Verlobter sie zu einem unschuldigen doch zweideutigen Picknick im Wald einlädt, verweigert sie sich von vornherein. Sie bittet verzweifelt schüchtern und wird doch erhört, bevor sie noch ein scharfes Nein sagen muss. Der Lehrer begreift und verzichtet. Dies ist wohl die einzige Szene des ganzen Films, in der „verhandelt“ wird, bevor überhaupt Gewalt in den Bereich des Möglichen kommt. Ansonsten läuft alles auf gewalttätige Konfrontation hinaus. Der jüngste Sohn des Pfarrers zieht mit Erlaubnis des Vaters einen noch nicht flüggen Spatz auf. Der Vater, der selbst einen Wellensittich im Käfig hält, gemahnt seinen Sohn, dem Vogel später die Freiheit zu geben. Das sei ein Opfer und müsse frühzeitig bedacht werden, sagt der strenge Vater. Der Sohn willigt dennoch ein. Als der Pfarrer dann seinen Wellensittich aus Rache „ermordet“ auf den Schreibtisch vorfindet, sucht das Kind ihn zu trösten und bietet ihm den eigenen Spatz als Ersatz an. Damit übertritt er das väterliche Gebot und verschenkt den eigenen Schatz. Dem Vater öffnet diese Geste nicht die Augen. Dafür dürfte sein Herz schon zu verhärtet sein. Dem behinderten kleinen Jungen, der brutal gefoltert wurde, teilt Haneke schließlich eine Rolle zu, die zu groß für ihn zu sein scheint. Er ist das reinste Opfer der Gewalttaten. Er wehrt sich nicht, weil er es nicht kann. Vielleicht wird er wegen seiner Verletzungen blind werden oder – möchte man sagen -, weil er zu viel gesehen hat. Er weiß jedenfalls und redet, obwohl er blöd ist. Indem er der Mutter die Namen seiner Peiniger miteilt, klagt er an, durchbricht er die Mauer der falschen Solidarität und des schlechten Gewissens. Das Beispiel des kleinen „Idioten“ bleibt – wie das der Verlobten des Lehrers und des Pfarrersöhnchens - aufs Ganze gesehen belanglos, unbedeutend wie der Träger des Wissens selbst. Alle drei handeln bei Licht besehen ohne viel Aufsehen und ohne Programm – ganz selbstverständlich, ganz natürlich. Sollte am Dorftrottel und an seinesgleichen die Welt der Gewalt, deren Teil und Metapher Eichwald ist, genesen? Wann war es den „Idioten“ je gegeben, etwas zu sagen, geschweige denn zu ändern? Mit einem „Wer weiß?“ mag sich der Filmbesucher heute beruhigen. Doch ein solcher Hoffnungsfunke lässt sich gleichberechtigt in die Linie der auch sonst noch offenen Fragen dieses und anderer Haneke-Filme einreihen. Angesichts der Ungeheuerlichkeiten der Epoche nach 1914, vor denen das Dorfgeschehen verblasst, sind Hanekes „Helden“ verzweifelt realistisch zu Nebenrollen verdammt. Vergangenen und gegenwärtigen Fragen pädagogischer und politischer Natur gewidmet, gibt auch „Das weiße Band“ keine Antworten. Schade. Aber unvermeidlich? (Dr. med Mabuse, Dez. 2009)
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