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Title Matilde- Eine grosse Liebe
Originaltitle: Un long dimanche de fiançailles
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Darsteller: Audrey Tautou, Gaspard Ullie, Jean-Pierre Becker, Marion Cotillard, Dominique Bettenfeld, Clovis Cornillac, Jean-Claude Dreyfus, Jodie Foster
Erscheinungsjahr: 2004
Land: Frankreich, USA
Stichwort: Kinderlähmung, Parese, Poliomyelitis, Trauma, Unfallfolgen, Gedächtnisstörung, Behindertenfilm, PTBS
Release: 00.00.0000

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Handlung
Frankreich 1920: Manech ist vom Schlachtfeld nicht heimgekehrt zu seiner Verlobten Matilde, die wegen Kinderlähmung gehbehindert ist. Er wurde mit fünf Kameraden wegen angeblicher Selbstverstümmlung zum Tode verurteilt und soll im Niemandsland zwischen den Schützengräben umgekommen sein. Es gibt ein Grab, aber keine Gewissheit, dass er dort liegt. Nach monatelanger Suche findet ihn Matilde wieder. Er leidet an völligem Gedächtnisverlust.



Weitere Info
Frankreich 1920: Manech Langonnet ist nicht heimgekehrt zu seiner wegen Kinderlähmung gehbehinderten Verlobten Matilde. Er wurde mit fünf Kameraden wegen angeblicher Selbstverstümmlung zum Tode verurteilt und soll im Niemandsland zwischen den Schützengräben umgekommen sein. Wider alle Wahrscheinlichkeit taucht Manech wieder auf. Sein Schicksal erzählt stellvertretend für französische aber auch deutsche Soldaten von den brutalen Mitteln, die sie zum Durchhalten brachten.

In "Random Harvest", in dem die Geschichte eines gedächtnisgestörten Soldaten erzählt wird, fährt die Kamera auf die "Irrenanstalt", in der der Mann ohne Erinnerung sich aufhält, in ähnlicher Weise wie in der Schlussszene von "Matilde"zu. Die Parallele ist so auffällig, dass man an ein filmisches Zitat denken muss.

Eine behinderte, doch nicht verhinderter Liebe
Mathilde, die ihren Verlobten gegen alle Wahrscheinlichkeit nicht tot glauben kann, versucht die Ereignisse seiner letzten Tage und Stunden zu rekonstruieren. Der Tod aller fünf Verurteilten scheint gewiss, da an diesem Frontabschnitt ausserhalb der Schützengräben kein Entkommen oder Überleben möglich ist. Doch Matilde entdeckt nach und nach seltsame Vorkommnisse. Sie entreisst sie dem Vergessen, dass für manchem der Verantwortlichen grad recht kommt.
Manech überlebt ohne Gedächtnis
Sie engagiert einen Detektiv und sucht Personen auf, die an demselben Frontabschnitt (beziehungsreich von den Soldaten Bingo Crépuscule getauft) gekämpft haben wie Manech. Trotz weiterer Geschichten und Hinweise auf den Tod der fünf Soldaten lässt sie sich nicht entmutigen. Darüber hinaus kommen zwei Männer um, die offensichtlich in Zusammenhang mit der Verurteilung der Soldaten stehen. Mathilde glaubt, dass eine andere Frau – so wie sie selbst – an das Überleben ihres Geliebten glaubt und bei ihrer Suche einen Rachefeldzug gegen die Mitschuldigen an dem Tod der Fünf führt.
Als Mathilde schließlich einen der fünf Verurteilten – den Bauern Benoit Notre-Dame – unter falschem Namen findet, wird die Hoffnung, dass auch ihr Geliebter überlebt hat, erneut entfacht. Benoit erzählt ihr, dass er den verwundeten Manech vom Schlachtfeld getragen und in ein Lazarett hat bringen lassen. Bei einem Bombenangriff sind allerdings später Betreuer und Betreute des Lazaretts umgekommen. Doch Manech befand sich bereits in einem Zug, der den Ort kurz vor verlassen hatte.
Darum erreicht Matilde, die mit ihren Ersatzeltern, in einem kleinen Dorf in der Bretagne lebt, die Nachricht, dass Manech als Sohn der kurz zuvor verstorbenen Witwe Desrochelles am Leben ist. Deren Sohn kam im Niemandsland zwischen den Linien um, wo Manech verletzt wurde. Benoit Notre-Dame hatte seine und Manech Erkennungsmarke gegen die gefallener Franzosen vertauscht, um einer späteren Bestrafung zu entgehen.
Da Manech sein Gedächtnis verloren hatte und die Witwe Desrouchelles voller Schmerz vorzog, der Erkenungsmarke statt ihren Augen zu trauen, war Manech in gewisser Weise tatsächlich gestorben und verdankt nun seine „Auferstehung“ sowohl dem Tod der Witwe als der Hartnäckigkeit Matildes.
"Matilde – eine grosse Liebe" ist ohne Frage ein Rührstück - doch man ist zu Recht gerührt. Und nicht ganz zustimmen kann man dem Filmkritiker der "Zeit" (Ed.5 / 2005 - http://www.kabeleins.de/film_dvd/filmlexikon/ergebnisse/index.php?filmnr=11135) wenn er über die Behinderung Matildes schreibt: "So makellos ist Audrey Tautou, dass Regisseur Jean-Pierre Jeunet sie sorgsam entperfektionieren musste. Sie hinkt hier, und sie heißt Mathilde, ist eine Waise und besitzt gerade so viel Geld, dass sie sich die Suche nach ihrem toten, womöglich aber doch nicht so toten Verlobten leisten kann."
Matilde hinkt
Warum hinkt Matilde? Ihre "Imperfektion" hat einen hohen Stellenwert für den Erzählgang und sein verstörendes Stopp-und-Go in der filmischen Umsetzung. Denn dem Zuschauer erschliesst sich erst nach wiederholtem, aufmerksamen Anschauen des Films die nicht nur komplizierte sondern auch höchst verschlungen gestaltete Filmhandlung. Sie muss wie ein Puzzel zudem noch aus bewegten Bildfragmenten zusammengesetzt werden und ergibt nur Sinn, wenn man die lose verbundenen Einzelschicksale aus den zum Teil auch noch vertauschten Rollen der Handelnden richtig miteinander verbindet.
Diese Erzählweise und die daraus folgende mühsam sinnstiftende Filmbetrachtung hat etwas von Matildes kindlicher Krankheit – sie wirkt gestört, behindert, frustrierend. Der Zuschauer wird immer wieder mit auftauchenden, neuen Personen, abbrechenden Beziehungen, überraschenden Wendung konfrontiert. Der Faden reisst, die Geschichte „humpelt“.
Wie in Matildes Leben übt aber die immer wieder angefachte Hoffnung einen Sog aus, der Matildes Suche und die Bereitschaft des Betrachters, ihr zu folgen, vorantreibt. Wenn Matilde am Ende, glücklich, erschöpft, ratlos vor ihrem Verlobten sitzt, der freundlich teilnahmslos in eine handwerkliche Tätigkeit versunken zu sein scheint, ist der Zuschauer eigentlich ebenso ratlos doch erleichtert und zufrieden, dass alles geklärt und zum Abschluss gekommen ist.
Wenn die Erzählerinnen-Stimme zum letzten Mal sich mit den Worten hören lässt ….. und Matilde sieht ihn an, sieht ihn an…….. klingt dies wie eine Aufforderung, sich – nach einer Bedenkpause erneut den Filmbildern zu widmen, möglichst mit Papier und Kugelschreiber bewaffnet.
Klarheit anstelle mitleidigen Verdeckens
Matildes krankheitsbedingte Gehbinderung hat nicht nur für den Gesamtgang der Erzählung strukturierende Funktionen. Sie ist zuallererst Ausgangspunkt der „grossen Liebe“ zwischen ihr und Manech. Dieser hat sie schon als Kind die diskriminierenden Krankheitsfolgen vergessen lassen. Während die anderen Kinder Matilde das Kind hänseln, fragt Manech in weiser Einfachheit, als er sie zuerst sieht, ob sie Schmerzen habe beim Humpeln.
Die gleiche Frage stellt er ihr erneut, als sie ihn endlich wiedergefunden hat als traumatisierten Naivling und Träumer, der er in den Schrecken des Krieges, der Verurteilung und der Heimatlosigkeit geblieben ist. Die Substanz der Liebe ist trotz Gedächtnisverlust nicht verloren gegangen.
Der Bogen einer grossen (melodramatischen Liebe) ist gespannt. Er steht aus den drei "M", die für Marité Matilde Manech stehen. Manech hat sie in die Mauer des Leuchturms geritzt, den Manechs Vater betreut und der Schauplatz der ersten, noch kindlichen Liebesbegegnung wurde. Noch in der verzweifelten Lage zwischen den mörderischen Schützenlinien ritzt Manech die drei Buchstaben in einen Baumstamm ein.
Anmutig ist das Holpern der ersten Liebesbegegnung der jungen Leute. Bevor jeder ein Kleidungsstück auszieht, zündet er ein Streichholz an und sie bläst es aus.
Was wirklich zwischen Selbstverstümmlung, Verurteilung, praktischer Hinrichtung und Wiederauferstehung von Manech geschehen ist, wird in manchmal verwirrenden Episoden erzählt. Und jede hat mit Splittern, Verstümmlung, der mal heiteren, mal gemeinen Hinkefüssigkeit des Teufels zu tun, der diskriminiert, täuscht, verrät und Böses plant, um für Matilde dann doch das Beste draus zu machen.
Gemeines, doch nicht bös Gemeintes hat Matilde ihr Leben lang erdulden müssen - ausgenommen von Manech und ihren humorvoll-ironischen, fürsorglichen Zieheltern. Hier erfährt Matilde Liebe ohne Mitleid, Fürsorge, die schützt aber auch herausfordert.
Mitleid ist das Letzte, was Matilde für ihre Behinderung und für ihre starrsinnige Suche erwartet. Sie weiss, dass sie sich von Kindesbeinen an Unmögliches weil Widersprüchliches abfordert. Dafür steht ihr liebenswerter Aberglaube, der höchst ungelenk daherkommt. Ihre Wetten der Art „Wenn dies nicht eintritt, bevor jenes nicht geschieht“ gehen pünktlich widersprüchlich aus; denn dies tritt nicht ein, obwohl jenes sich anders als gewettet ereignet.
Nützliches Behindertsein
Matilde hat aber auch gelernt ihre Körperschwäche zu ihren Gunsten auszunutzen. Obwohl durchaus flink auf den ungelenken Beinen, setzt sie sich jedesmal in den Rollstuhl, wenn sie jemandes Gunst durch Mitleid fördern will bzw. andere über die eigene Geschicklichkeit täuschen muss. Ihrem überbehütenden Vormund presst sie damit die Auszahlung ihres Erbes ab, das sie seiner Meinung nach mit ihrem sinnlosen Auftrag an einen schlitzohrigen Detektiv verschleudert.
Diesen Detektiv wickelt sie als Behinderte um den Finger; denn er hat selbst eine Tochter, die durch Kinderlähmung behindert wurde. Eine der später dem Schnitt geopferten Szenen zeigt Matilde und die Kleine des Detektivs am Meer, humpelnd und sich lachend mit Schimpfworten für Hinkende bedenkend– Lahme Ente, Hinkebein, Krummbein.
Da ihr als „lahme Ente“ niemand etwas zutraut, erreicht sie besonders als Lahmende ihre bedeutendsten (Such)Erfolge. Den Archivar eines militärischen Dokumentationszentrums hintergeht sie Mitleid erweckend und kommt dadurch im Gegensatz zu ihrem selbstgefälligen Vormund an aufschlussreiche Militärgeheimnisse.
Matildes Galgenhumor, der den Zuschauer ihre Behinderung geradezu vergessen macht, äussert sich z.B. in einer kleinen Szene, bei der sie aus einem Aufzug rollt. Vor den entgeisterten Augen der Wartenden verlässt sie den Rollstuhl, klappt ihn zusammen und humpelt davon mit den Worten: Das kommt nicht nur in Lordes vor.
Eine Geschichte in der Geschichte
Immer wieder bringt die Gehbehinderung der Unermüdlichen überraschende Aufschlüsse. Sie erweicht auch das Herz von Elodie Gordes, die ihr die Geschichte eines seltsamen Liebeshandels erzählt. Als Episode in der Gesamthandlung ist diese Geschichte - und ihre Protagonistin, die überraschenden Jodie Foster - eine Perle.
Auch diese Geschichte, die einen Film für sich abgeben könnte, ist ihrerseits voller krankheitsbedingter Hindernisse. Sie besteht in der Hauptsache aus einer ungewollten Dreiecksbeziehung. Daran beteiligt sind Elodie Gordes, ihr Mann Benjamin „Biscotte“ Gordes, und Bastoche, ein Kunstschreiner, zudem einer der Fünf zum Tode Verurteilten von Bingo-Crepescules.
„Biscotte“ ist impotent, hat aber eine Witwe mit fünf Kindern aus Mitleid geheiratet, die dann an Tuberkulose gestorben ist. Mit Elodie möchte er ein sechstes Kind zeugen, dessen Geburt ihn vom Militärdienst freistellen würde. Für die Schwangerschaft Elodie’s soll Bastoche, Gordes bester Freund
Matildes Behinderung erklärt schliesslich auch die Unerschütterlichkeit, mit der sie an Manech (und dieser an ihr) hängt. Manech hat sie als Junge den Leutturm hinaufgeschleppt und ihre die Weite des Meeres zugänglich gemacht. In verzweifelter Situationträumt sie sich selbst von der Plattform des Leuchtturms gerutscht allein an der Hand ihres Manech über dem Abgrund baumelnd.
Happy End
Energie und Engagiertsein sind die Zeichen, unter denen die Liebe zwischen Matilde und Manech nicht stirbt. "Un long dimanche de fiançailles", der französische Originaltitel, ist für diesen Behindertenfilm, in dem die Behinderung das Leitmotiv und den Erzählrhythmus vorgibt eine wesentlich passenderer Zusammenfassung als die nichtssagende und normalisierende Feststellung, dass es sich dabei um eine "grosse Liebe" gehandelt habe.
Die Schlussbilder des Films heben noch einmal die Symbiose hervor, die Erzählung, Erzählstruktur und Bedeutung eingehen: Matilde weiss, dass Manech im Garten des Pfarrhauses wartet. Er erwartet nicht sie, ist aber darauf gefasst jemand zu treffen, der ihn kennt. Sie geht allein auf die Haustür zu, dann humpelt sie langsam –zögerlich, scheint es – durch einen langen dunklen Gang, an dessen Ende das Licht des Garten zu sehen ist. Dann hat sie noch eine Strecke zurückzulegen, bis sie sich zu Manech setzen kann. Die Streck macht ihr Mühe, weil sie lahmt, dabei weiss der Zuschauer, dass sie durchaus flink auf ihren Beinen sein kann. Aber hier trägt sie die Last der Erinnerung, die Manech abgeschüttelt hat, um nicht dem Grauen zu erliegen. Vielleicht, vermutlich wird sie sie nun ein Leben lang für Manech tragen müssen.
Ihr kindlicher Beschützer ist selbst ein Schützling geworden, ein ahnungsloses Kind, ein schwer behinderter Mensch, den der Krieg seelisch umgebracht hat. Die Behinderte wird an der Seite eines psychisch Gestörten leben müssen. Diese düstere Perspektive wird durch das (Sonnen)Licht des Gartens überstrahlt und durch die Freude des Wiederfindens.
(stefan heiner)


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