„Liebe“ bis zum gewaltsamen Tod Michael Haneke stellt in seinem letzten Film dem Publikum womöglich eine Falle„Liebe“, der jüngste, preisgekrönte Film von Michael Haneke erzählt von einem alt gewordenen Ehepaar, das ein „Ja“ auf die Beatle-Song-Zeile „Will you still need me, will you still feed me, when I’m sixty-four.” vorlebt. Er versorgt und füttert sie, nachdem sie einen Schlaganfall und die folgende verunglückte Hirnoperation überlebt hat aber halbseitig gelähmt. Das berührende Ehedrama aber hat einen schrecklichen Ausgang. Er bringt sie um, indem er ihr ein Kissen auf den Kopf drückt, bis sie erstickt ist. Er ist George. Sie ist Anna. Beide haben sich als Pianisten beruflich und existentiell der klassischen Musik verschrieben. Dabei hat sich Ehepaar ein behagliches, wenn auch nicht üppiges Alter in einer Paris Wohnung verdient. Ihre einzige, verheiratete Tochter guckt zuweilen vorbei. Sie beobachtet freundlich aber distanziert die selbstständige und selbstgenügsame Zweisamkeit ihrer Eltern. Von ihr sind gut gemeinte Ratschläge aber keine wirkliche Hilfe zu erwarten. Und Hilfe ist jetzt gefordert. Marie ist hilflos geworden. Sie kann nichts mehr allein tun weder sich Anziehen noch Essen, von Klavierspielen ganz zu schweigen. Ihre Existenz hängt von George ab. Sie ist ihr sinnlos geworden, seitdem sie nicht mehr spielen kann. Mit Mühe erträgt sie die Anwesenheit ihres berühmtesten Schülers Alexandre, der sie besuchen kommt, ohne zuvor von ihrer Behinderung erfahren zu haben. Sie bittet ihn, ihr noch einmal vorzuspielen, ein letztes Mal. Danach will sie nichts mehr mit dem Klavier zu tun haben. George träumt sich in einem flash back ins unweigerlich Vergangene zurück. Er sieht Marie am Klavier. Ein anderer Traum, ein Alptraum hingegen sagt ihm die Zukunft mit verkehrten Vorzeichen voraus. Im nächtlichen Treppenhaus sucht eine aus dem Dunkel langende Hand ihn zu ersticken. Marie will Schluss machen. In George Abwesenheit sucht sie sich aus dem Rollstuhl durch das Flurfenster in den Hof zu stürzen. George findet sie elend und hilflos vor dem unerreichbaren, offenen Fenster und hebt sie mühsam in den Rollstuhl. Geringe Fortschritte zeichnen sich in Marie’s Zustand ab. Sie lernt, sich ein wenig besser zu bewegen. Ein zweiter Schlaganfall macht aufkeimende Hoffnungen zunichte. Danach ist Marie fast vollständig gelähmt, liegt im Bett und ruft zuweilen herzzerreissend und wie mechanisch um „Hilfe“. George stellt eine zweite Pflegerin ein, die sich sehr bald als „Drachen“ entpuppt. Sie degradiert Marie zum Kind und beschimpft George unflätig als er sie entlässt. Tochter Eva kommt mal wieder vorbei und erklärt George für „überfordert“. Er ist es in einem Masse, der ihn dazu bringt, Marie eine Ohrfeige zu verpassen, weil sie sich standhaft weigert, auch nur einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen. Sie will nicht mehr. George sieht keinen Ausweg. Der fürsorgliche Nachbar bringt Einkäufe. Die Tochter rät zur Heimeinweisung. So ist auch für George das Leben kaum mehr lebenswert. George ist ein begnadeter Erzähler. Am liebsten berichtet er aus dem eigenen Leben. Ein letztes Mal erzählt er der verzweifelten Marie ein Kindheitserlebniss. Damit versetzt er seine Frau in den Zustand vollständiger Ruhe. Ist sie eingeschlafen? George packt mit dem Mut der Verzweiflung ein grosses Kopfkissen. Er reisst es an sich und bedeckt mit aller Kraft Maries Gesicht. Die erstickende Frau wehrt sich. Sie zuckt mit abnehmender Kraft. Dann ist alles still. Bevor George mit unbekanntem Ziel und Schicksal das Haus verlässt, sieht er und hört er Marie in der Küche beim Abspülen hantieren. Seine Frau ist tot. Die Erinnerung an ihr Tätigsein lebt fort. Die letzte Filmeinstellung zeigt Tochter Eva, wie sie die Wohnung von Marie und George aufschliesst und in einem Sessel sitzenden ins Leere starrt. Die Szene knüpft an eine der ersten des Films an: Feuerwehrleute brechen die Wohnung von Marie und Geoge auf. Ihnen schlägt Leichengeruch entgegen. Marie liegt in Blumen gebettet tot im Schlafzimmer. Das ist der vorletzte Akt des Dramas, auf den das Nachspiel völliger Ruhe und Leere folgt. Aber es ist nicht der Anfang des Films. Dieser ist ungewöhnlich, ja rätselhaft. Man sieht einen Konzertsaal von der Bühne aus. Die Leute suchen sich ihre Plätze. Es wird still im Saal. Klaviermusik erklingt. Das Konzert eines Pianisten beginnt, den man nicht zu Gesicht bekommt. Nachdem das Licht wieder angeht, verlässt das Filmpublikum den Saal, in dem es Michael Hanekes „Liebe“ miterlebt hat. Man kann es sich kaum anders als ergriffen und vielleicht erschrocken vorstellen. Das also ist „Liebe“. Man kann sich auch das Publikum kaum anders als verzweifelt zustimmend vorstellen. So viel Aufopferung! Und sie wollte sterben, das ist gewiss. Ansonsten aber ist nichts gewiss. Tötung aus Liebe? Tragische Folgen einer Überforderung? Heimweinweisung – die bessere Alternative? Von einer Filmerzählung, die Haneke inszeniert hat, ist kaum etwas anderes zu erwarten als Erschrecken und Ungewissheit. Das war im „Weissen Band“ (2009) nicht anders als in „Caché“ (2005). „Code unbekannt“ (2000) ist ein Leitmotiv im Werk Haneke’s. Aber diesmal stehen ja Interpretationsschlüssel und Urteil sogar im Titel: „Liebe“. Haneke plädiert also für das unsanfte Herbeiführen eines sanften Todes? Tragische Fälle der Art sind gern Tagesgespräch. Nicht selten begegnet dabei voyeuristisches Erschrecken gepaart mit ratlosem Verwechseln von Liebe, Verzweiflung und Überforderung. Allein der Gedanke, dass einer wie Haneke einfache Auswege aus dem Dilemma weist, verbietet sich. Eher möchte man an eine Erneuerung von Hanekes filmischen Warnungen glauben, dass der Horror sich gern in liebevoll geordnete – zumeist bürgerliche – Häuslichkeit einnistet. Nachdenklich stimmt auch, dass Haneke-Filme zwar mit erschreckender Regelmässigkeit Gewaltausbrüche zeigen, damit aber eigentlich die vom Medium Film kultivierte Gewalt zum Gegenstand haben. Er stösst sein Publikum geradezu darauf, dass es aus sichrer Distanz zuschauend Teil gelegentlichen Gewaltausbruchs ist. Die Eingangsszene macht auch in diesem Sinne Sinn. Andere Schlüssel für den verführerischen Titel „Liebe“ bieten sich an. Dass in Paarbeziehungen Gewalt eher Männer- als Frauensache ist z.B. Und da es in „Liebe“ um Gemeinsamkeit am Lebensabend geht, könnte Haneke die Ausweglosigkeit von selbstgenügsamen Paarbeziehungen in den Blick genommen haben. Diese ist womöglich weder durch Kultur noch durch Anstand noch durch Opferwillen zu bewältigen. Und sicher ist sie Kurzschlüssen ausgesetzt bei allgemeiner, wenn auch verdeckter gesellschaftlicher Lieblosigkeit. Wenn "Liebe" ein Beitrag zur Euthanasiedebatte ist, die ja nichtzuletzt um Erlösung der Täter ringt und es sich dabei zugegebenermassen nicht leicht macht, so übermittelt der Film wohl doch keine Gewissheit. Freispruch für die Täter bedeutet womöglich keine Absolution für's Tun. (stefan heiner, november 2012)
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