Was sind Epilepsiespielfilme und welche Charakteristiken zeichnen sie im Einzelnen aus? Bemerkungen zum Corpus einschlägiger Filme Stand: 18.10.2016Allgemeine Betrachtungen Das „Corpus der Epilepsiespielfilme“ in „Bildstörung“ besteht aus einer Auswahl kommentierter Spielfilmtiteln, die Cineasten, Filmjournalisten, Medienexperten, Medizinhistorikern, Epileptologen sowie Organisatoren von Informationsveranstaltungen, Aufklärungskampagnen und Selbsthilfegruppen zur Analyse und zum praktischen Gebrauch dient. Bis zum 12.12. 2017 verzeichnete die Datenbank 558 Filme. „Epilepsiespielfilm“ ist weder ein Filmgenre noch ein in der Filmgeschichte gängiger Sammelbegriff für thematisch oder formal zusammengehörige Filme. Die Bezeichnung gilt vor allen Dingen praktischen Zwecken. Sie umfasst alle Filme, in denen Epilepsie und epileptische Anfälle eine – wenn auch noch so kleine - Rolle spielen. Einschlusskriterien für die Titelauswahl beziehen sich auf • Relevanz, • Personen, • Gelegenheiten, die einen Film als Epilepsiespielfilm charakterisieren: Zur Relevanz eines Filmtitels in der Debatte um Spielfilme mit Epilepsie: Seit vielen Jahren beschäftigen sich Medizin- und Filmexperten mit dem Auftreten von Epilepsien im Spielfilm. Bücher und Aufsätze erscheinen in wachsender Zahl, die zumeist auch Filmographien enthalten. In verschiedenen Filmdatenbanken sind einschlägige Titel verschlagwortet. Hinweise bzw. Titelsammlungen finden sich auch auf Informationsseiten von Selbsthilfeorganisationen, Ärzteverbänden und Pharmaherstellern. Zu Personen der Geschichte und Zeitgeschichte, deren Epilepsie bzw. epileptischen Anfälle bekannt sind bzw. debattiert wird: Sie bieten schon in der Frühzeit des Spielfilms Stoff für Haupt- und Nebenrollen (z.B. Cäsar, Jeanne d’Arc, Napoleon, van Gogh). Gleiches gilt für Figuren des fiktiven Schrifttums (biblische Erzählungen, Dramen, Romane). Die Filmgeschichte selbst hat die verschiedensten Rollen hervorgebracht, die mit Epilepsie zu tun haben. Als hilfreich gilt manchem Autor dabei der Hinweis, dass eine „wahre Begebenheit“ dem Film zugrunde liege. Ob die „wahre Begebenheit“ nun auch in epileptologischer Hinsicht wahr ist, sei dahingestellt. Zu Episoden unterschiedlicher Gelegenheiten: Epileptische Anfälle werden nicht selten losgelöst von der Erkrankung eingesetzt, so etwa Elektro-Schock- und Insulin-Schock-Anfälle. Dabei handelt es sich um epileptische Episoden, die provoziert und darum kein Krankheitssymptom sind. Variantenreiche epileptiforme, nicht-epileptische Einzelanfälle sind immer wieder anzutreffen. Sie führen zur Aufnahme des Filmtitels in "Bildstörung". Dabei ist unerheblich, ob sie (fälschlich) als solche im Film verwandt werden oder in der Debatte um Epilepsiespielfilme nicht als falsch erkannt werden. Auch falsch verstanden ist ja jeweils "Epilepsie" gemeint. Das kann bei Narkolepsie der Fall sein und ist besonders häufig beim Einsatz psychogener Anfälle zu beobachten. Psychogene, nicht-epileptische Anfalle sind in der epileptologischen Wirklichkeit Gegenstand epileptologischer Behandlung. Eine Sonderform einzeln ohne realen Bezug zur Erkrankung auftretender Anfälle bilden die gar nicht selten anzutreffenden simulierten epileptischen Anfälle. Sie führen meist kurzfristig die im Film anwesenden Personen in die Irre. Sie müssen dramaturgisch aber möglichst genau als epileptische ablaufen, weil sonst der beabsichtigte Effekt auf die Filmfiguren, die dabei sind, ausbleibt. Sie bringen dann natürlich auch den Kinobesucher auf eine falsche Fährte. Es sei denn, er ist darauf vorbereitet, dass zweckvolle Täuschung eines Anfalls vorliegt. Der Ein- oder Ausschluss von epileptischen Anfällen "bei Gelegenheit" macht die Problematik der Corpusbildung besonders deutlich. Viele Filme werden dem „Corpus der Epilepsiefilme“ nur zugeordnet, weil ein Filmrezensent oder –betrachter sich dafür ausgesprochen hat. Viele verdienen aufgrund der Unkenntnis der Filmautoren und der Unfähigkeit der einen Anfall spielenden Akteure „eigentlich“ den Einschluss in ein Corpus der Epilepsiespielfilme nicht. Der Autor von „Bildstörung“ hat sich für ein breitmöglichstes Kriterien-Spektrum entschieden. Kein Film soll ausgeschlossen werden, der seinen Stellenwert bei der Analyse und Bewertung von Filmen mit Epilepsie haben kann. Die medizinische Definition für Epilepsien und epileptische Anfälle wird von „Bildstörung“ natürlich berücksichtigt. Eine Selektion der Filme und Aufschlüsselung der Anfälle nach medizinischen Gesichtspunkten findet aber nicht statt. Erkennbarer Mangel an Kenntnis, Erfahrung oder Sorgfalt bei der Beurteilung von Filmen kann andererseits sehr wohl ein Ausschlusskriterium bilden. Ausschlaggebend müsste dabei der Augenschein sein, der im Fall von "Bildstörung" aber nur zum Teil gegeben ist. Die Datenbank „Bildstörung“ besteht aus zwei Abteilungen, aus den „Epilepsiespielfilmen“ und den Filmen mit Behinderung und Krankheit. Beide Abteilungen enthalten die gleiche Anzahl von Epilepsiespielfilmen. In der allgemeinen Abteilung ist das Verhältnis von Epilepsiespielfilmen zu Filmen mit anderen Themen 543 zu 1.483. Da Epilepsiespielfilme hier in einen grösseren Zusammenhang gestellt werden, ist es nützlich auch diesen Teil der Datenbank zu konsultieren. Die Beschreibungen der Epilepsiespielfilme sind identisch. Die Stichworte der Abteilung „Epilepsiespielfilme“ Die Stichwortbeschreibung der Epilepsiespielfilme ist ein „work in progress“ und streckenweise experimentell. Sie ist lückenhaft und zuweilen widersprüchlich. Korrekturen sind geplant, aber selbst dann bleibt der Versuch subjektiv, Spielfilme mit Bezug auf Epilepsie genau zu beschreiben und damit dem Nutzer der Datenbank eine gezielte Auswahl aus dem corpus aller zusammengetragenen Epilepsiespielfilme zu ermöglichen. Für die Verstichwortung der aufgenommenen Filme gilt: Allgemeine Einordnung „Expertenzuordnung“: Hinweise von medizinischen oder cineastischen Experten, von AutorInnen, die sich mit der Materie befassen. Der Datenbankautor hält sich selbst für einen Experten in dieser sehr spezifischen Materie. „Zuschreibung“: Hinweise, deren Vertrauenswürdigkeit nicht ausreichend geprüft werden konnte. „Epilepsiespielfilm“: Der Datenbankautor schlägt die damit getroffene Auswahl als corpus der vornehmlich zu diskutierenden Filme vor. Epilepsie und epileptischer Anfall bzw. was ein medizinischer Laie als solchen ansehen könnte, werden darin ausdrücklich genannt und/oder gezeigt. Diesen Titeln wurde eine Gruppe von Filmen zugeordnet, die diese Kriterien nicht erfüllen, aber nach Ansicht des Autors in der Analyse eine Rolle spielen sollten. Das selektierte corpus der Epilepsiespielfilme besteht aus 371 von 543 Titeln. Sie können anhand der allgemeinen Abteilung von „Bildstörung“ auf dem Hintergrund von rund 1.500 Spielfilmen mit Krankheit und Behinderung analysiert werden. Aus diesem corpus wurden 167 Titel ausgeschlossen: 38 Titel, bei denen nur die Vorlage (Literatur, Remake) Bezug auf Epilepsie nehmen, der Film selbst aber nicht. 34 Titel, in denen ein Anfall nur kurz erwähnt wird. 21 Titel, in denen Epilepsie nur kurz angesprochen wird. 21 Titel, in denen Elektroschocktherapier durchgeführt wird (nicht immer auch mit Bildern des Anfalls). 13 Titel, wo nur die Bezugsperson (Cäsar, Othello, Dostojewski’s Idiot z.B.) etwas mit Epilepsie zu tun hat. 4 Titel, in denen eine Eklampsie vorkommt. 4 Titel mit nur indirekter Beziehung zur Epilepsie (Erwähnung im Abschnitt „weitere Informationen“). 2 Titel mit Tieranfällen. 30 weitere Titel wurden aus Mangel an Kenntnis der Filme ausgeschlossen bzw weil sie als unbedeutend für die Debatte angesehen wurden. „EpilepsieprotagonistIn“: In der Regel spielt die epilepsiekranke Figur die oder eine der Hauptrollen. Zuweilen ist ein solcher Film aber auch von einer Person geprägt, die eine Nebenrolle spielt – siehe z.B. „An einem Freitagabend“. In diesem Film geht es um die Epilepsie eines Kindes (Nebenrolle). Protagonist ist der Vater, dem auch die Hauptrolle zufällt. „Krankheitsname fällt“: Falls im Film von Epilepsie (auch im uneigentlichen Sinne) die Rede ist, kann dies den Zuschauer durchaus orientieren. Als „uneigentlich“ gilt z.B. der Satz „Mach nicht den Epileptiker“. Zu beachten ist allerdings, dass auch wichtige Hinweise im Spielfilm leicht übersehen/überhört bzw. vergessen werden. Das gilt auch für das kommende Stichwort. „Anfall erwähnt“: Dabei geht es nur darum, dass einmal von „epileptischem Anfall“ die Rede ist, ohne dass notwendig darauf eingegangen wird oder ein solcher gezeigt wird. Siehe auch oben. „Nur Erwähnung“: Im Film fällt eine Bemerkung, die auf Epilepsie oder einen epileptischen Anfall verweist. „Nur indirekt“: Im Film spielt Epilepsie keine Rolle. Nur in den „weiteren Informationen“ wird auf eine Verbindung zur Epilepsie verwiesen. „Mit Anfall“ „ohne Anfall“, „Ob Anfall ungeklärt“: Eine Anfallsepisode – insbesondere eine sichtbar „epileptische“ – kennzeichnet wie kaum etwas anderes einen Spielfilm. In der Datenbank sind die meisten Filme nicht vom Datenbankautor vollständig gesichtet worden. Aus vielen – selbst ausführlichen - Hinweisen auf Filme ergibt sich leider nicht immer, ob ein Anfall überhaupt gezeigt wurde, obwohl das nahe zu liegen scheint. Ob es sich um einen medizinisch wahrscheinlichen Anfall handelt, steht dann immer noch dahin. (siehe unten) „Anfallsform benannt“: Wird überhaupt etwas zum Ablauf und zur Natur des Anfalls gesagt/gezeigt? Wie medizinisch korrekt die Aussage ist, ist in jedem Fall offen. Anfallsformen und ihre Bezeichnung: Die Einteilung des „Corpus“ nach Anfallsformen ist bedauerlich grob. Sie ist auf Vorwissen und Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums eingestimmt, nicht auf medizinische Kategorien. Es ist anzunehmen, dass die Anwendung epileptologischer Massstäbe zu einer endlosen Debatte über Aus- oder Einschluss selbst unter medizinischen Experten führen würde. Anamnese und Diagnose fallen diesen schon "in der Wirklichkeit" nicht leicht, um wie viel mehr muss dies bei fiktiven Erkrankungen der Fall sein. Anfallsformen nach ihrer filmischen Gestalt und Ursache werden in der Datenbank folgendermassen registriert: „Krampfartiger Anfallsverlauf“ (Erscheinungsformen wie die eines Grand mal-Anfalls) Komplexer Anfallsverlauf (Erscheinungsformen wie die eines komplex-fokalen oder hypermotorischen Anfalls) „Blackout / Sturz“ (aussetzendes Bewusstsein, Verlust des Muskeltonus, womöglich Absence) „Verstörung“ (womöglich Absence, Halluzinationen, Auren etc.) „Induzierter Anfall“ (Elektro- und Insulinschock-Episoden) „Simulierter Anfall“ (Anfälle, die die Filmfigur absichtlich als epileptische spielt) Auf das Stichwort „pseudo-epileptischer“ oder „dissoziativer“ Anfall wurde verzichtet, weil bisher kein Film gefunden wurde, auf den das Stichwort nützlich anwendbar gewesen wäre, d.h. wo eine Figur an erklärten und nicht diskutierten Anfällen dieser Art litt. In jedem Fall erscheinen Epilepsiespielfilme nicht geeignet, die Natur von „wirklichen“ bzw. pseudo-epileptischen Anfällen zu diskutieren, sind sie doch alle nur gespielt. „Eklampsie“ „Tieranfall“ Charakteristiken, cineastischer Natur „Epilepsie nur in der Vorlage“: Literarische Filmvorlagen (Literatur, Remakes, plots) enthalten zuweilen Hinweise auf Epilepsie, die der Film nicht aufgenommen hat) „Nur Bezugsperson“: Eine der Figuren im Film ist als „Epilepsiekranke(r) bekannt bzw. die Krankheit wird ihr/ihm häufig zugeschrieben (z.B. Othello, van Gogh, Dostojewski, Alexander der Grosse). Epilepsie taucht dabei nicht notwendig im Film selbst auf. „Hauptrolle“ „Nebenrolle“ „Episode“: Das „epileptische Geschehen“ bleibt eine reine Episode. Sie spielt weder vorher noch nachher „eine Rolle“ im Filmverlauf. Gemeint sind Episoden wie die Szene des epileptischen Anfalls im Restaurant, in dem Frankie und Johnnie (im gleichnamigen Film) arbeiten. „Rolle ungeklärt“: Da der Datenbankautor nicht immer dem gefundenen Hinweisen entnehmen kann, wer „epilepsiekrank“ ist in einem Film, wurde diese Kategorie eingeführt. Spezielle Fragestellungen „Epilepsiechirurgie“ und „Hirnoperation“: An Figuren, die in einem Epilepsiespielfilm operiert werden, wird nicht notwendig ein epilepsiechirurgischer Eingriff vorgenommen. Auftretende epileptische Anfälle können hingegen Folge einer Tumorentfernung (aus dem Gehirn) sein. „Gewaltkontext“: „Epilepsie“ und „Gewaltausübung“ werden in vielen Filmen in (voreingenommen) in enge Verbindung gebracht. Es handelt sich hier um ein der spezifischen Interpretation dienliches Stichwort. „Narkolepsie“: Die Krankheit hat mit Epilepsie nichts gemein – ausser gewisser Ähnlichkeit der Anfallssymptomatik (Blackout / Sturz) und der Tatsache, dass sie im Spielfilm zuweilen verwechselt werden Zusammenfassend Für die Aufnahme eines Films in die Datenbank ist also nicht erheblich, ob er Epilepsie oder epileptische Anfälle nach dem zur Zeit der Verzeichnung geltenden medizinischen Wissens präsentiert. Ausschlaggebend ist, A ob ein Filmbesucher die im Film verwandten Phänomene begründet in Verbindung bringen kann mit Epilepsie. Diese Frage zu entscheiden obliegt am Ende den Diskutanten, die auf Filme verweisen und dem Datenbankautor, der sich seiner immer auch subjektiven Kriterien wohl bewusst ist. B ob ein Film darüberhinaus geeignet ist, in die Debatte um „Epilepsiespielfilme“ einbezogen zu werden. Dies ist den Diskutierenden und dem vorschlagenden Autor überlassen. Soweit möglich prüft der Datenbankautor, ob ein Film völlig willkürlich als bezüglich auf Epilepsie eingeordnet wird. Um die Debatte so breit wie möglich führen zu können, werden aber auch ganz unsichere Hinweise berücksichtigt. Es sollte nie vergessen werden, dass die Gesamtheit der Epilepsiespielfilme überhaupt keine epileptischen Anfalle und nur selten fachgerechte Darstellungen der Erkrankung enthält. Für eine Reihe von Behinderungen finden sich behinderte Schauspieler, die auch sind, was sie spielen. Dies ist im Fall der Epilepsie sinnlos, da spezifisch epileptische Symptome selbst von Epilepsiekranken gespielt werden müssen. Ein streng medizinisches Herangehen an die Materie scheint dem Autor nur dann und dort erlaubt, wo zuvor streng medizinische Auswahlkriterien zur Herstellung des Untersuchungsgegenstandes angewandt wurden. Ob dabei eine der Filmanalyse dienliche Untersuchungsgruppe zustande kommt, ist noch zu verifizieren. Korrektes Arbeiten mit den beiden "Corpora" - gesamte 543 Filmtitel, Epilepsiespielfilme von 371 Titeln - erscheint mir erst dann gegeben, wenn die dort versammelten Filmtitel Basis eines eigenständigen, selbst gesichteten und selbst verantworteten samples sind. Ein Erkenntnisfortschritt in der Debatte um Form und Funktion von "Epilepsiespielfilmen" ist m.M.n. zu allererst dann zu erwarten, wenn der Untersuchungsgegenstand bestmöglich definiert ist. Dies gilt vor allen Dingen für jede statistisch gestützte, verallgemeinernde Aussage. Wünschenswert für Verallgemeinerungen wäre in jedem Fall, dass die Autoren alle oder die meisten der untersuchten Filme selbst gesehen und begutachtet haben. Andernfalls schreiben sich Irrtümer zu Erkenntnissen fort. Das „Corpus der Epilepsiespielfilme“ ist immer auch im Entstehen; denn noch viele seiner Quellen sind unerschlossen, ja nicht einmal entdeckt. Da die Filmproduktion im Werden und Wachsen ist, wird dies auch immer so bleiben. Cortona, 18.10.2016 / stefan heiner
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