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Title An ihrer Seite
Originaltitle: Away from Her
Regie: Sarah Polley
Darsteller: Gordon Pinsent, Stacey LaBerge, Julie Christie
Erscheinungsjahr: 2006
Land: Kanada
Stichwort: Behindertenfilm, Alzheimer-Krankheit, Rollstuhl, Heim
Release: 11.09.2006

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Altwerden

Handlung
Der Universitätsprofessor Grant Anderson und seine Frau Fiona, beide über 60 und seit über 40 Jahren verheiratet, leben seit der Pensionierung Grants zurückgezogen auf dem Lande. Fiona beschliesst, sich ein Heim für Menschen mit Altersdemenz zu suchen, als sie unter schwerwiegender Desorientierung zu leiden beginnt. Dort wendet sie sich einem Altersgenossen zu und scheint Grant vergessen zu wollen.



Weitere Info
„An ihrer Seite“ ist kein (bzw. eigentlich kein) Film über die Alzheimer-Krankheit, obwohl darüber ausführlich, korrekt wenn auch schönfärbend informiert wird. „Schön“ wird die Krankheit allerdings auch durch Julie Christie (Fiona Anderson). Nicht unwichtig auch, dass der Film Hässliches und schlicht Pathologisches weglässt, das die Krankheit im wahren Leben mit sich bringt.

Der kanadischen Schauspielerin, Sarah Polley ist mit „Away from her“, ihrem Regiedebut, ein berührender und höchst doppelbödiger Liebesfilm gelungen. Dass sie medizinisch aufklärenden Ehrgeiz dabei entwickelte, ist nicht ersichtlich. In Rezensionen wird ziemlich regelmässig auf angebliche Realitäten der Krankheitsdarstellung verwiesen, aber auch ziemlich oft gesagt, dass es darum nicht geht. Worum geht es?
Drei Aspekte berühren unmittelbar: die scheinbar einfache und ruhige Erzählweise – ein Film mit langen Einstellungen, „bedeutungsvollen“ Landschaftsbildern, perfekten Grossaufnahmen, ein Film für überkommene Sehgewohnheiten; die scheinbar schnörkellose Darstellung einer tiefen Zuneigung – bis dass der Tod sie scheidet; die scheinbar unaufdringliche Schilderung eines krankheitsbedingten Verlöschens noch vor dem Tod. Beeindruckend dabei sind in jedem Fall die schauspielerische Leistung von Julie Christie (Fiona), Gordon Pinsent (Grant) und Olympia Dukakis (Marian). Alle drei verkörpern überzeugend Menschen im Alter, die sich mühen, trotz Unglück und wachsender Verluste Würde, Selbstbestimmung und sogar so etwas wie Lebensbejahung zu bewahren.
Der Schein jedoch trügt unentwegt. Der klare Filmaufbau ist wiederholt von flash backs durchbrochen, die weder ein klares Filmbild geben noch inhaltliche Klarheit bringen. Man braucht schon ein gutes Gedächtnis, um flash backs und Filmhandlung zu einer Erzähleinheit montieren zu können! Vieles bleibt ungeklärt, klar ist jedoch, dass Grant nicht der treue Liebhaber ist, als den er sich gern sähe. Der „Verfallsprozess“ von Fiona und ihr neuer Aufenthaltsort schliesslich weisen mehr als eine Aussparung auf. Nicht die Krankheit und das Altersheim sind leidvoll – wenigstens nicht im Bild. Trauer entsteht, weil die heile Vergangenheit vergeht. Der Schnee des Vergessens deckt alles wunderlich wunderbar zu.
Wie in den erfolgreichsten melodramatischen Liebesgeschichten, deren Helden naturgemäss vor allem junge Menschen sind, mag auch hier ein beckmesserischer Kinogänger stören, der auf einer realistischen Schilderung besonders der Alltagsaspekten der Geschichte, besteht. Der Film entfaltet seine melodramatische Dimension erst, wenn „Altersdemenz“ wie „Kanada“ nur als Rahmen und Drehort verstanden wird. Beide liefern, was der Geschichte zweckdienlich ist, dass nämlich Vergessen Entfernung von sich und allem Gewohnten bewirkt und dass Schnee nur flüchtig Spuren bewahrt. Der Film zeigt die Vorstädte Torontos nicht und hält mit den Schrecken der Demenz, der Realität von Heimen und den Mühen, die die Pflege kranker Menschen mit sich bringt, hinter dem Berg. Hat sich der Zuschauer einmal davon frei gemacht, Menschen vor sich zu haben, die an Alzheimer Demenz erkrankt sind, gewinnt der Film Gestalt als ein teils verstörendes teils amüsantes Lehrstück in Liebe, wahrhaft und metaphorisch „vom Ende her gesehen“.
Ohne Tränenschleier vor den Augen, den der Film meisterhaft zu produzieren versteht, stellt sich die Liebe zwischen Grant und Fiona weniger rührend aber betreffender dar. Der Bedeutungswandel des Englischen „Away from her“ zum deutschen „An ihrer Seite“ kündigt die Richtung des Sinneswandels an. Der kanadische Titel warnt vor dem Melodram, der deutsche lockt in die Arme der Rührung. Beide Sichtweisen sind legitim: der schöne Schein einer unsterblichen Liebe hat ebensoviel Berechtigung wie der sich davon emanzipierende Blick hinter die Kulissen. Beides ist Kino in bester Form und doppelt zu geniessen, wenn das eine nicht besteht ohne das andere.
Von den flash backs her gesehen und eingestreute Äusserungen fortdenkend ergibt sich eine recht andere Liebesgeschichte als die „scheinbar“ erzählte: Fiona wird im Alter fremd, was ihr Eheleben ausgemacht zu haben scheint. Die sinnliche und intellektuelle Harmonie mit einem Mann, der sein höchst eigenes Berufs- und Liebesleben parallel zu seiner Ehe hat führen können, weicht der Desorientierung. Den Schauplatz vom idyllischen Landsitz zum freudlosen Altersheim wechselnd, die Rolle als ergeben Gattin und beste Zuhörerin ihres in Buchweisheit verliebten Mannes aufgebend wird Fiona eine andere. Sie liebt neu. Sie findet neue Gegenliebe. Sie schafft sich eine neue Aufgabe, durch die und in der sie bestimmen kann.
Diese neue Welt Fionas entsteht unter den Augen des schockierten und hilflosen Gatten. Sie enthüllt sich ihm als ihn die egoistisch Geliebte „versetzt“, als ihn eine durchaus nicht fürsorgliche Gattin ins Heim - sozusagen „heim“ holt.
Die Gründe dafür sind banal. Marian, die Ehefrau von Fionas neuem Partner, will das Geld für die Heimunterbringung nicht aufbringen. Und dies aus verständlichem Egoismus. Die Heimkosten würden ihre eigene Existenz ökonomisch vernicht. Dafür nimmt Marian in Kauf, dass sie die Mühen der Pflege selbst tragen muss. Ihre scheinbar aufopfernde Gattenliebe entspringt jenem Kalkül, das viele Männer erst sehen, wenn „ihnen die Augen geöffnet“ werden.
Grant hingegen will sich nicht länger dem wirklichen Verlangen seiner Frau entgegenstellen. Seine Liebe zu Fiona gewinnt vielleicht erstmals jene altruistischen Züge, die sie von sexueller Besitzfreude und narzisistischer Selbstbestätigung unterscheidet. Er will sich zufrieden geben mit der Rolle dessen, der seine Frau befriedigt sieht. Deswegen unternimmt er alles, ihren neuen Freund wieder ins Altersheim zurückzubringen. Seine Bemühungen führen ihn dahin, die Frau seines Nebenbuhlers zu „verführen“. Die beiden von ihren jeweiligen Partnern verlassenen alten Leute verstricken sich in eine kalkulierte Liebelei, in der die traditionellen Rollen von Mann und Frau in der Liebe vertauscht sind. Er erreicht durch Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche sein (neues) Lebensziel.

Wer die Entwicklung der Viereckbeziehung Fiona – Aubrey; Marian – Grant so sieht und beschreibt, setzt sich ohne Frage dem Vorwurf aus, alles und alle zynisch banalisieren zu wollen. Der Film selbst entgeht einem solchen Vorwurf, in dem er Grants Untreue, seinen akademischen Egoismus, Fionas Einsamkeit und Entwurzelung in verklärende flash backs verpackt und ihre Emanzipation von der ehelichen zur „wahren“ Liebe mit dem Schleier des neurologisch bedingten Vergessens überzieht. Nun erweist sich als wohl bedacht, dass Fionas Verlassen des goldenen Ehekäfigs als Folge der Altersdemenz beschrieben wird, von der der Film als Symptom nur das wellenartige Vergessen und die Entfremdung aus hergebrachter Umgebung zeigt, alle anderen Aspekte des „Leidens“ aber entfernt. Ja, diese Krankheit kommt so unscheinbar und frei von Entstellung daher, dass Fiona nach Belieben und Nutzen mit dem Vergessen spielen kann. Typisch dafür ist ihr scheinbar unschuldiger Scherz. Mit ihrem Mann unterwegs ins Heim gibt sie plötzlich vor, vergessen zu haben, wohin die Reise geht. Auf das „aber Fiona!“ ihres für Doppelbödigkeit wenig empfänglichen Mannes antwortet sie kokett: Ich habe ja nur einen Scherz gemacht.
Spätestens hier wird man den Verdacht nicht mehr los, als scherze diese wunderbare, sinnliche, hochintelligente Frau mit allen und jedem, nur nicht mit ihrem neuen Liebhaber, den sie hingebungsvoll umsorgt. Die ratio dieser Scherze, die eine völlige Entkopplung von Vergangenheit und Gegenwart, von Verantwortung und Lust voraussetzen, liefert dem treulos treue Ehemann eine junge Pflegerin, die ihn (und den Filmbesucher) über medizinische Eigenheiten der Alzheimer Krankheit aufklärt. Aufklärung ist hier ironischerweise eher ein Vorgang des Hinters-Licht-Führens.

Fionas Tragödie ist es, freiwillig einen Ort betreten zu haben, der ihren Wünschen entgegenkommt, den sie aber nicht wieder verlassen kann, auch nachdem er seine Zweckdienlichkeit verloren hat. Das ist ein bewährtes Schema der Tragik. Es ereilt den sich selbst enterbenden König Lear ebenso wie den Kleinkriminellen McMurphy aus „Einer flog über das Kuckucksnest“, der sich mit simuliertem Irrsinn der Polizei entzieht und in der Psychiatrie zu Tode therapiert wird.
Grant ist durch Fionas Pflegerin schon darauf vorbereitet, dass „Alzheimer-Patienten“ gerade in fortgeschrittenem Stadium kurzfristig zu Verstand und Erinnerung kommen können. Und als dieses von Grant herbeigesehnte Ereignis der Erinerung und der erneuten Liebe tatsächlich eintritt, bestätigt es den unwiederbringlichen Verlust. Ohne den geliebten Aubrey ist das Altersheim und Fionas neue Welt leer, keine Alternative zum gewohnten Platz „an seiner – des Ehemannes – Seite“. Wie lange Fiona noch Kraft und vor allem Lust haben mag, solche Niederlagen zu überstehen, bleibt offen – so offen wie bei vielen Frauen der Weltliteratur und des internationalen Spielfilms, die wie Ibsen’s Nora alle Türen hinter sich zugeschlagen haben.


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