Kommentar: |
Nach dem Roman von A. E. Hotchner, King of the Hil (1973)l
A. E. Hotchner's memoir about growing up in St. Louis during the Great Depression. The book is a memoir of his own childhood.
Ellas Krampf – eine für die Epilepsieaufklärung verschenkte Szene
Wäre da nicht der leidige Mundkeil, so wäre Soderbergh mit der kurzen Freundschaft zwischen Aaron und Ella eine anrührende und zugleich auch für Aufklärung nutzbare Episode um Epilepsie im Teenageralter gelungen.
Natürlich ist vom medizinhistorischen Standpunkt nichts dagegen einzuwenden, dass Ellas Mutter ihrer krampfenden Tochter den Stiel eines hölzernen Kochlöffels (anstelle eines Mundkeils) zwischen die Zähne schiebt mit der Bemerkung „Pass auf Deine Zunge auf.“ In den dreissiger Jahren und leider bis heute galt und gilt der Mundkeil als geeignetes Mittel, einen Menschen im epileptischen Anfall davor zu schützen seine Zunge zu verschlucken und daran zu ersticken oder – und das mag einsichtiger klingen -, die Zunge davor zu bewahren, (ab)gebissen zu werden. Dass es sich dabei um (leider noch immer verbreiteten) medizinischen Unsinn handelt, braucht die Produzenten eines Spielfilms nicht zu kümmern.
Zunächsteinmal etwas zum Mundkeil, obwohl solche Betrachtungen eigentlich in der Würdigung einer Filmszene nichts zu suchen haben. 1) Ein Mensch im Anfall kann seine Zunge nicht verschlucken und darum auch nicht daran ersticken. 2) Weder Mundkeil noch Kochlöffel bewahren vor Verletzungen im Mundraum, wenn im Anfall die Zähne krampfhaft zubeissen. Der ängstigende blutige Schaum, der während eines tonisch-klonischen Anfalls austreten kann, entsteht durch erhöhte Speichelbildung, heftig gehenden Atem und ein wenig Blut, das aus einer Mundwunde austreten kann. Die Verletzung ist harmlos. Der Anblick allerdings ist beängstigend. 3) Nur ganz ausnahmsweise gerät eine Person durch Speichelfluss oder Erbrochenes in Lebensgefahr. Es ist aber immer besser, sowohl bei einem Anfall, als auch bei anderen ähnlichen Zwischenfällen den Betroffenen in eine Seitenlage zu bringen, damit Flüssigkeit aus dem Mund abfliessen kann und die Luftröhre frei bleibt.
Und nun zurück zu Soderbergh’s Film und zur Begegnung zwischen Ella und Aron.
Während dieser von seinen Eltern allein gelassen wird, hat Ella eine fürsorgliche Mutter. Diese beobachtet mit Sympathie und Takt, wie sich ihre Tochter den jüngeren und unreifen Jungen zum Freund zu machen sucht. Der Zuschauer wird Ellas Liebesbedürfnis und Isolierung zunächst auf ihr verschüchtertes Äusseres zurückführen, das durch eine unförmige Nickelbrille noch unterstrichen wird. Nachdem sie aber während des Tanzens mit Aron einen „grossen Anfall“ erlitten hat, wird er Ella’s Aussehen und Verhalten treffender einzuschätzen wissen.
Die ganze Tragik des Mädchens ist dann auch in die beiden Sätze eingeschlossen „Ich bekomme Anfälle selten, nur wenn wir kein Geld für Medikamente haben.“ Und: „War es schlimm.“ Aron reagiert, wie Ella es sicher schon verschiedentlich erlebt hat: Er flieht.
Anders als seine vermutlichen Vorgänger kehrt er aber – gutmütig wie er ist – zweimal zurück, um Ella zunächst seine Kanarienvogelbrut zu zeigen (und zu hören, dass sie und ihre Mutter abreisen werden) und dann um ihr ein Kätzchen zu bringen, das Ella sich gewünscht hat. Das wenige reicht um Ella gestehen zu lassen, die kurze, folgelose Bekanntschaft mit Aron sei das „einzig Gute“ gewesen, was ihr in dieser Zeit passiert ist. Ein frühreifer Kuss schliesst diese Begegnung würdig ab. Er gehört wie der folgende erfolgreiche Schulabschluss und einige männlich gefassten Entschlüsse zu Arons frühreifen weg ins Erwachsenwerden.
Hätte es nun besonderer Vorkehrungen oder gar einer medizin-historischen Geschichtsfälschungen bedurft, um diese Szene rundum als „Vorzeigeszene“ für Heranwachsende, die epileptische Anfälle bekommen und für ihre Eltern zu machen. Eigentlich nicht. Doch dem Drehbuch und der Regie liegt es an etwas anderem, an der Eindeutigkeit der Szene und dem Einstimmen des Zuschauers auf etwas höchst Peinliches und Ängstigendes. Und so überfrachten sie eine in sich schon traurige Szene mit all dem Beiwerk, ohne das ein epileptischer Anfall anscheinend im Kino nicht bestehen kann.
Die Frage, warum der Spielfilm Szenen mit epileptischen Anfällen pünktlich überfrachtet, lässt sich mit einer Analyse von Soderbergh’s Filmszene beispielhaft beantworten: a) es geht dem Spielfilm nicht um Aufklärung sondern um Unterhaltung, b) der Spielfilm setzt epileptische Anfälle bewusst und zweckgerichtet ein wie das Wetter zur Charakterisierung von Figuren, Szenen und Stimmungen ein, c) die Ausgestaltung der Szene muss sozusagen nahtlos „andocken“ an eine Zuschauererwartung, die gespickt ist mit medizinisch Fragwürdigem aber visuell Unabdingbarem. Dazu gehören der Krampf, Gewalttätiges wie Niederhalten und Keil, Speichel, Blut und Bewusstlosigkeit, Panik rundum, allgemeines Erschrecken und Chaos.
In der Zuschauererwartung ist alles, was nicht derart „epileptisch“ gestaltet ist irgendetwas anderes, erfüllt also seinen Zweck nur sehr unvollkommen. Ein Bäcker ohne mehlbestäubten weissen Kittel ist „anders“, kein Bäcker. Epileptische Anfälle im Spielfilm sind relativ häufig. Viele werden nicht erkannt, weil sie „anders“ sind. Wer epileptische Anfälle aus Spielfilmen kennt und beschreibt, wird vorwiegend in den eigenen Gemeinplätzen über den Verlauf epileptischer Anfälle bestätigt.
Also Ella tanzt mit Aron. Obwohl sie fast einen Kopf grösser ist als dieser, legt sie ihren Kopf an seine Wange. Sie ist glücklich, obwohl der in jeder Hinsicht ungeübter Partner ihr auf den Fuss tritt und im übrigen eigentlich mehr an der versprochenen Mahlzeit auf dem Herd als an der Tänzerin in seinen Armen interessiert ist. Nun fällt Ella zu Boden und krampft dabei schon. Das reicht eigentlich, um Aaron und den Zuschauer ausreichend zu erschrecken.
Die Episode könnte mit dem resignierten Blick Ellas – sie weiss nur zu gut, dass sie „schrecklich“ ausgesehen hat – und mit der kaum verhüllten Flucht Arons ausklingen. Der Anfall hat ihn übrigens um sein Mittagessen gebracht! Einen versöhnlichen, wenn auch schmerzlichen Ausgang könnte das Ganze nehmen, wenn Aron fast gezwungen verspricht wiederzukommen, dann aber wirklich wiederkommt und beim zweiten Mal sogar noch ein Kätzchen mitbringt.
Wie gesagt, die Regie trägt aber lieber dicker auf und verdirbt damit alles. Ella liegt am Boden. Sie krampft, sie wird die Zähne fest aufeinander gebissen haben. Sie wird bewusstlos sein. Ihre Mutter steckt ihr einen Kochlöffel zwischen die Zähne. Wird dies gelingen, ohne ihr einen Zahn zu brechen? Sie legt dem (bewusstlosen) Mädchen ans Herz: „Pass auf deine Zunge auf.“ Selbst ein medizinischer Laie wird ahnen, dass dieser Satz sinnlos ist und bestenfalls mütterlicher Panik entspringt.
In der Filmepisode erscheint aber die Mutter als überhaupt nicht „panisch“. Sie hat eine solche Szene sicher schon oft erlebt. Sie ist entsprechend besonnen. Sie agiert eigentlich nur so unangemessen, weil – möchte man ironisch formulieren – die Regie es sich selbst so denkt und/oder glaubt, der Zuschauer würde paradoxerweise eine korrekt ablaufende Anfallsszene für einen Regiefehler halten. Verkehrte Welt, die aber leider im Spielfilm oft zu beobachten ist. So traktiert im Film etwa Cleopatra/Taylor den krampfenden Cäsar mit einem „Mundkeil“. Und Dr. Ross aus der Notfallambulanz von „ER“ ruft seiner krampfenden Bettgefährtin zu „Halt durch!“
Ende gut alles gut. Versöhnlich mit dieser „klassischen“ Anfallserzählung stimmt die Tatsache, dass die Regie Ella nach dem Anfall weder von Notfallwagen abtransportieren lässt noch sie in verwirrtem Zustand darbietet. Welcher Einsicht der Regie aber verdanken wir diese Rückkehr zum medizinisch Sinnvollen? Richtig: Die Rückkehr zum Realismus ist funktional zur Filmerzählung. Der Zuschauer hätte auf den durchaus rührenden Abgang Arons und die insgesamt melancholische Stimmung verzichten müssen. Denn selbst im Guten bestätigt sich, dass der Spielfilm nicht Naturereignisse abbildet sondern Geschichten erzählt. Und die folgen ihren ganz eigenen – im Erwartungshorizont des Zuschauers vorformulierten – Gesetzen.
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