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Deutschstunde
Film von Peter Beauvais nach dem gleichnamigen Roman von Siegfrid Lenz
Der epileptische Anfall in diesem Film hat eine klare Funktion. Seine Ausgestaltung fällt – wohl auch bewusst – anders aus als seine Schilderung im Roman.
Epileptische Anfälle einer Nebenfigur tragen weniger als erwartet zur Entwicklung der Erzählung bei." (Zitat aus Peter Wolf)
Der einzige Anfall im Film trägt zur Förderung des Erzählverlaufs in der Tat so gut wie nichts bei. Dafür beleuchtet er aber grell die zentralen Gegensätze, um die sich der Roman dreht. (Insofern ist der Anfall für den Verlauf der Erzählung Nebensache, hat aber seine Funktion für das Verständnis des Gesamtverlaufs.)
Betroffen ist ein Gelegenheitsfreund von Jepsens Tochter Wilke, die in einem Hotel arbeitet. Ihr Freund arbeitet dort als Musiker. Wilkes strenge und bigotte Mutter bezeichnet ihn gleich am Anfang schon als "Zigeuner" und gibt damit zu erkennen, daß die die Verbindung mit ihrer Tochter zutiefst mißbilligt. Als Typ entspricht der Musiker dem naiven, fröhlichen, spontanen, kunstzugewandten jungen Mann, der nicht viel Erfolg im Leben verspricht und schon lange keine bürgerliche Gutsituierheit, wie sie sich die Jepsens erwarten.
Im Gegensatz dazu scheint er bei den Nansens höchst passend, eine lebensfrohe Künstlergestalt aus der Welt der Töne statt der Farben. Er evoziert also nicht nur wie es einer Nebenfigur zukommt die Gegensätze zwischen den beiden im Roman konfrontierten Welten. Er ist hingegen ein typischer Vertreter einer der im Kampf miteinander liegenden Welten: Lebensbejahung/Kompromißbereitschaft contra Lebensverzicht/Pflichterfüllung.
Obwohl Nebenfigur vereinigt der Musiker die Attribute, derentwegen Jepsen den Maler verfolgt. Mehr noch, er trägt die zentralen Gegensätze wieder ins Herz der Ordnungsfamilie. Er spielt gemeinsam mit Wibke auf minderer Ebene die gleich Rolle wie das Protagonistenpaares Nansen/Siggi.
Durch den epileptischen Anfall öffnet er darüberhinaus noch eine weitere Dimension der Kritik an der Pflichtübererfüllung und der Regimetreue. Kulturelle Rebellion wird durch ihn um eine tragische Variante bereichert: Krankheit und zwar - nimmt man die Epilepsie als Chiffre - die schwer kontrollierbare, die geistig schwächende und damit verdächtige. Suggeriert werden auch "Geisteskrankheiten" bzw. alle Krankheitsarten, die von den Nazis direkt zum Anlaß der Verfolgung und des Massenmordes genommen wurden.
Im Film ist diese bedeutungsvolle Rolle einer Nebenfigur sehr wohl zu erkennen. Ort, Zeit und Gelegenheit des Schwächeanfalls sind so gewählt, daß dieser seine ganze symbolische Fracht an den Zuschauer bringen kann. Warum der Regisseur in der Darstellung eine solch verschleierte, ja verbergende Realisierung gewählt hat, ist schwer zu beantworten. Wollte er den Gegensatz zwischen einem höchst vorrübergehenden Krankheitsereignis kontrastieren mit den so weitgehenden Folgen, die für die Polizistenfamilie daraus gezogen werden.
Dafür spricht, daß die Tatsache der epileptischen Natur des Anfalls konsequent nicht geleugnet oder verhüllt sondern anscheinend bewußt verwischt wird. Als epileptischer ist der Anfall des Musikers nicht mehr zu erkennen und wird auch durch keine Bemerkung der Hinzukommenden als solcher identifiziert. Der Regisseur läßt also offen, was der Autor klar bezeichnet hatte.
Analysiert man jedoch genauer den ganzen Vorgang, so ergibt sich allerdings der epileptische Anfall als beste, wenn nicht sogar einzige Erklärung der gezeigten Vorgänge. Der Musiker geht kurz zu Boden, wobei die Töne des hinfallenden sodann von einem der Hinzueilenden aufgehobenen Schifferklaviers den Initialschrei und das Stöhnen eines Menschen im Anfall nachzuahmen scheinen. Die Umstehenden verdecken völlig das Ereignis. Doch wird der Betroffene sogleich aufgerichtet und kann fast ganz allein ins Haus gehen, wo er sich nach den Worten eines der Gäste ausruhen soll. Dazu braucht er aber nur wenig Zeit, denn etwas später sieht man ihn schon wieder Schifferklavier spielen.
Eine Herzattacke ist demnach wenig wahrscheinlich, ein Asthmaanfall auch. Denkbar wäre ein schlichter Kreislaufkollaps oder ein Schwächeanfall. Dieser würde aber nicht Siggis Mutter Entsetzen rechtfertigen, daß dieser "Zigeuner" nun auch die Krankheit mit ins Dorf gebracht hat. Der Anfall an sich ist also nicht das Schwerwiegende sondern der Charakter, den bigotte und vom Regime verführte Menschen der damit verbundenen Krankheit zu geben pflegen.
Hier kommt also nur ein epileptischer Anfall in Frage, der auf Geisteskrankheit, Erbkrankheit, unterminierte Volksgesundheit verweist und damit die wütende Reaktion von Siggis Mutter ins rechte Licht rückt.
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