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Aufgenomme in die Filmliste Merino Marcos, Maria Lucila: Cerebral palsy in cinema, J Med Mov 1, 2005, 66-76; Mit Zerebralparese (cerebral palsy) wird eine Gruppe chronischer Störungen der Haltungs-, Bewegungs- und Gleichgewichtsfunktionen des Körpers bezeichnet, die auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurückgeht.
Gianni sieht seinen Sohn praktisch zum ersten Mal im Zug nach Berlin; denn Paolo wurde durch eine Zangengeburt für's Leben geschädigt. Seine Mutter starb während der Geburt. Sein Vater Gianni ergriff sogleich die Flucht und überließ den Neugeborenen der Schwester der Frau, die er nicht hatte heiraten wollen.
Gianni hat nun geheiratet und hat seit kurzem ein zweites, ein gesundes Kind. Jetzt will er die Sache mit Paolo ins Reine bringen. Die Reise des ungleichen Paars geht von München über Berlin und endet in Schweden, ein Road-Movie per Bahn, Mietwagen und Schiff. Auf dieser Reise - von Italien in den hohen Norden und von eiskalter Distanz zu Wärme und Liebe - löst sich ein Schicksalsknoten. Gianni verspricht seinem "verstoßenen" Sohn "die Schlüssel zu seiner Wohnung". Er nimmt ihn in seine neue Familie auf.
G. Amelio gelingt eine bewegende Dreiecksgeschichte. Da ist der kleine Paolo (Andrea Rossi), der mit Mühe auf seinen verkrümmten Beinen steht und sich tapfer gegen die Umwelt und den hilflosen Vater behauptet. Und da ist Nicole (Charlotte Rampling), die Mutter einer pflegebedürftigen erwachsenen Tochter. Nicole führt während des Berliner Klinikaufenthalts Gianni (Kim Rossi Stuart) in den "Beruf" der Eltern behinderter Kinder ein. Das sei, sagt sie, eigentlich Sache und Kreuz der Mütter. Die Väter ergreifen ja meist die Flucht - wie Gianni eben.
Die drei Hauptfiguren, um deren "Behinderungen" Amelios kammerspielartiger Film kreist, haben einander etwas beizubringen. Gianni und Paolo lernen, aufeinander zu achten. Die zunächst abgeklärt und stark wirkende Nicole lernt, Niederlagen einzugestehen. Sie hat sich nicht abgefunden. Sie leidet zutiefst an der Behinderung ihrer Tochter. Bei der Trennung von Gianni bricht es aus Nicole heraus: Manchmal wünschte ich, meine Tochter sei tot.
Um diese Lernprozesse und den Kampf darum geht es dem Film. Gianni hat sich kaum dazu durchgerungen, seinen Verrat am Sohn wiedergutzumachen, da brechen auch schon wieder Angst, Trauer und Zweifel durch. Schluchzend sitzt er am Straßenrand. "Sowas macht man nicht!" ermahnt ihn altklug tröstend der behinderte Sohn. Diese Szene und diese Worte, sagt Amelio in einem Gespäch mit dem italienischen Filmkritiker Goffredo Fofi, seien der Schlüssel zum Ganzen. Sein Film zeichne den Weg nach, den er selbst zurückgelegt habe, um sich von der (Berührungs)Angst mit Behinderten zu befreien.
Amelio hat seinen "Lernfilm" Giuseppe Pontiggia gewidmet, auf dessen autobiographischem Roman (Giuseppe Pontiggia, Zwei Leben. Hanser, 2002 ) er beruht. Nicht Pontiggia's Leben, dafür aber seine lebenslange Erfahrungen mit dem eigenen behinderten Sohn hat Amelio für die Filmerzählung genutzt. Sie wird zusammengefasst in dem Satz: "Behinderte Kinder kommen zweimal zur Welt. Das erste Mal sind sie auf das Leben nicht vorbereitet, danach der Liebe und der Intelligenz ihrer Umgebung anvertraut." Das klingt dramatisch und auf Dramatik haben es Buch und Film auch allzusehr abgesehen.
Dramatisch wie bei einer Zangengeburt geht es immer mal wieder zu. Buch- und Filmautor leiden an der Normalität und deren Mangel an Rücksicht und Verständnis mehr als mancher Behinderte. Das wirkt seltsam bedrückend. Nicole-Rampling sorgt sich und leidet bis zur Selbstaufgabe. Gianni-Rossi Stuart quälen Schuldgefühle. Ein Taxifahrer ist mitleidvoll aufdringlich. Eine Ärztin therapiert "Teutonisch" mit Kasernenhofstimme. Die Polizei ist moralinsauer nachsichtig. Theatralisch wirft Vater Gianni den Krückstock seines Sohnes auf der Fähre nach Schweden über Bord. Und den Ernst der Hirnverletzung Paolos unterstreicht ein epileptischer Anfall, dem Gianni natürlich hilflos ausgeliefert ist.
Zum Glück ist Paolo erfrischend normal. Er nervt und erheitert, belehrt und ist doch naiv, traut dem Vater nichts zu, trägt ihm aber am Schluß nichts nach. Er beweist - als Paolo im Film und als behinderter Andrea Rossi im Leben - daß auch Behinderte eigentlich nur einmal geboren werden wie jeder andere Normale.
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