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The Changeling
Patchwork der Realitäten
Der deutsche Titel „Der fremde Sohn“ kündigt nichts von dem Mysterium an, das "The Changeling" verspricht. "Wechselbalg" wäre die genaue deutsche Übersetzung. Beide Begriffe öffnen eine Märchenwelt. Böse Feen, Elfen tauschen zuweilen ihre Kinder, die dann nicht wachsen wollen, gegen gesunde Kinder aus, deren Eltern ahnungslos sind.
Bei der Präsentation seines Films in Cannes sah sich Eastwood übrigens ahnungslos mit einer Titeländerung konfrontiert. Der Film lief als „The Exchange“. Dass Filmmarketing mag gefürchtet haben, der Englisch sprechende Filmbesucher werde mit dem Mystery-Begriff wenig anfangen können. Gleiches wäre wohl auch zu fürchten, wenn die deutschsprachige Synchronisation unter dem Titel „Wechselbalg“ vermarktet würde.
Mit der Erwartung einer filmischen Märchenerzählung kontrastiert die Ankündigung des Films, er basiere auf einer wahren Geschichte (siehe dazu unten). Der zu Film beginn eingeblendete Hinweis erhält damit etwas Programmatisches: Ein märchenhafter Alptraum, den die Wirklichkeit schuf.
Der Realitätsbezug der packenden Filmerzählung "The Changeling" ist durchaus vorhanden, wenn auch - zurecht und üblich – nicht bis in alle Einzelheiten. So war es - anders als im Fiom - die korrupte Polizei selbst, die den falschen Walter Collins seine wahre Identität gestehen lässt. Daraufhin wurde die reale Christine Collins aus der Psychiatrie entlassen.
Drehbuchautor und Regisseur haben sich nicht nur kreativ an der Wirklichkeit der 20er/30er Jahre in den USA orientiert. Einige Film-Episoden und die Bilder, mit denen sie gestaltet sind, evozieren andere Filme und deren für den Filmbesucher zur "Wirklichkeit" geronnen Fiktionen:
Polanski erzählt in „Rosemary’s Baby“ die Geschichte eines dämonischen „Wechselbalgs“, der einer widerstrebenden Mutter unterschoben wird.
Fuller hat mit „Schock-Korridor“ eine bittere Anklage gegen Psychiatrie als Ort der seelischen Vergewaltigung und konkreter Folter verfilmt. Die „Elektro-Schock“-Therapie ist darin ein angekündigtes Folterinstrument
Forman inspirierte mit "Einer flog übers Kuckucksnest" ein ganzes Genre von Filmanklagen gegen die Methoden der „Schul-Psychiatrie“, in dem fast schon kanonische Instrumente der Unterwerfung von der Seelenfolter über die Beruhigungspille bis zur „Elektro-Schock“-Therapie heimisch sind. In „The Changeling“ gleicht das diabolische Psychiatrie-Team bis in Einzelheiten den Gehilfen der diktatorischen Schwester Mildred Ratched aus Formans Klassiker.
Korrupte „Police Departments“ sind wie die italo-amerikanische Mafia Standardbaustein einer Unzahl von bedeutenden und unbedeutenden Spielfilmen. Francis Ford Coppola in der „Der Pate“ und Sergio Leone in „Es war einmal in Amerika“ haben die Verwechselbarkeit von Ordnungshütern und Verbrechern zu einem der Leitmotive ihrer Filme gemacht.
Machtbessene und korrupte „Ärzte“, die Therapien als Strafen verschreiben, tauchen im Spielfilm immer wieder auf. (Coma, Extrem – mit allen Mitteln, Frances, Operation Blue Sky).
„The Changeling“ bedient sich oft sehr unkritisch der Zuschauererwartungen, die sich im Lauf der Filmgeschichte geformt haben. Das gilt nicht nur aber auffällig oft für die Darstellung „krankhafter“ Zuständen. Die Verzweiflung ist Christine Collins kontrastreich geschminktem Gesicht direkt abzulesen. Die Irrenanstalt ist in der Tat ein Ort des Irrsinns bevölkert von abnormen Betreuern und hohläugigen Opfern mit zerzausten Haaren. Die unschuldige Prostituierte mit dem heroisch guten Herzen darf darin nicht fehlen. Die Opfer sind in diesem Film schön und gut, ihre Verfolger kalt, schmallippig und fanatisch. Dem drahtigen Polizei“verbrecher“ legt ein fülliger Familienvatertyp mit Halbglatze das Handwerk. Nur in diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass in der „wahren Begebenheit“ der kaltherzige Polizeioffizier selbst entscheidend zur Aufklärung des Falles beiträgt.
„The Changeling“ montiert eine Wirklichkeit, die sich als ein Patchwork von „wahrer Begebenheit“ und „erlebter Filmgeschichte“ erweist. Der Filmerzählung selbst, die trotz Episodenfülle stets Übersicht und Spannung behält, schadet das keineswegs. Von der historischen und der medizinischen Wahrheit bleibt dabei aber das meiste auf der Strecke. Der Film macht es im Dienst der Unterhaltung sich und dem Zuschauer durch standardisierte Episoden und Figuren einfach. Unterhaltung und Spannung sind jedoch nicht die besten Voraussetzungen für realistische Auskünfte über die den Film inspirierenden Wirklichkeiten.
Die wahre Geschichte hinter "The Changeling":
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In March 1928, Christine Collins, a single mother living in the Los Angeles suburb of Mt. Washington, gave her 9-year-old son Walter a dime to go to the movies. She never saw him again. The missing boy became a national cause and hundreds of false tips were called in to police. Five months later, when a boy claiming to be Walter Collins was found in Illinois, the search was called off, and the incident chalked up as a win for the beleaguered LAPD.
Christine, though, was sure that even though the boy resembled her son, he wasn't Walter. Anxious to put the incident behind them, the LAPD, particularly one Captain J.J. Jones, pressured her to take the child home. When Collins went back to the LAPD after three weeks to insist that she had the wrong child (with dental records to prove it) Jones, worried about embarrassment to the LAPD, had her committed to an insane asylum.
While she was incarcerated, Jones grilled the boy -- and found out that he was an impostor, a runaway from Iowa who thought posing as Walter Collins would get him to Hollywood. Christine Collins was released and filed suit against the LAPD. (Two years later, Christine Collins finally won her suit against Jones, and was awarded $10,800, which he never paid.)
Trying to save face, Jones then linked the Collins boy to another set of horrifying crimes, the mass murder case that became known as the Wineville Chicken Coop Murders.
In September 1928, LAPD officers searched the Northcott Ranch in Wineville, a farming community in Riverside County, acting on a tip about a missing Canadian boy, Sanford Clark. The boy was found, but his harrowing story led to more missing children. Clark claimed that his uncle, Gordon Stewart Northcott, had kidnapped, molested and murdered a number of young boys, with the help of his mother, Sarah Louise Northcott. (The mother's role, for some reason, has been cut from Eastwood's film.) Under the farm's chicken coop, police found graves filled with body parts and quicklime, and shreds of a bloody mattress.
Northcott first confessed to five murders, then to just one, and later told a prison guard he'd murdered as many as twenty; Sarah Northcott confessed to killing Walter Collins with an axe, then withdrew her confession. Northcott was convicted of three murders and sentenced to death, and his mother to life in prison. After Northcott's execution by hanging in 1930, one of the boys he had been accused of killing was found alive, and Collins never gave up hope of finding her son.
The LAPD was happy to let the incident drift into history, and Wineville tried to erase the whole sorry episode: In 1930, to avoid its newfound notoriety, the town changed its name to Mira Loma. In the end, Northcott may be getting his final wish. At the time, observers worried that the sensational trial and execution gave him the fame that he always wanted. But that fame faded, and the episode was mostly forgotten. Now his celebrity is back, maybe this time for good.
Sacha Howells, Nov 07, 2008 (film.com)
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