Kommentar: |
Tschechische Tragikomödie frei nach Dostojewskis «Der Idiot».
siehe dazu: Brötz, Dunja: Dostojewskis "Der Idiot" im Spielfilm. Analogien bei Akira Kurosawa, Sasa Gedeon und Wiom Wenders. transkript Verlag, Bielefeld 2008
daraus:
In einer zweiminütigen Trausequenz sieht Frantisek sich selbst während eines Elektro-Schocks.
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Eine Alptraumsequenz (Frantiseks?), die sich in Annas Schlafzimmer ereignet, zeigt einen epileptischen Anfall.
Lakonisch-melancholische, märchenhafte Komödie nach Motiven von Dostojewskijs Roman "Der Idiot", die aus der kunstvollen Variation minimalistischer Mittel ein Höchstmaß an cineastischer Wirkung erzielt. Von einem starken Stilwillen getragen und hervorragend besetzt, bezieht der Film bei der Reflexion über das Verhältnis von Selbsttäuschung und Projektion auch das Medium Kino mit ein. (O.m.d.U.)
Unsere Kritik:
Mit Dostojewskijs grüblerischem Roman "Der Idiot" verbindet Sasa Gedeons zweiten Spielfilm nur einige Handlungsmotive: die "Rückkehr" des Helden aus einer psychiatrischen Anstalt, das Unvermögen der Figuren, den Mechanismus von Selbsttäuschung und Projektion zu durchschauen, die komische Rolle des "Idioten", die Widersprüche seiner Umgebung so zu Bewusstsein zu bringen, dass man ihnen nur schwer ausweichen kann. Wie Prinz Myskin sitzt zwar auch Frantisek zu Beginn in einem Zug, der ihn "zurück" in die Provinz zu entfernten Verwandten bringen soll; doch schon die ersten Einstellungen machen klar, dass es sich bei dieser lakonisch-melancholischen Komödie um keine Literaturadaption im herkömmlichen Sinn, sondern um pures, atemberaubendes Kino handelt. Mit den Fingern rubbelt Frantisek eine kreisrunde Stelle ins zugefrorene Waggonfenster, um einen Blick auf die Welt zu werfen. Dort sieht er auf dem Bahnsteig im Halbdunkel eine junge Frau, Anna, die offensichtlich auf jemand wartet. Über der Szene liegt eine märchenhafte, bezaubernde Melodie wie aus einer Spieldose, die leitmotivisch ständig wiederkehrt, ohne sich abzunützen - eine Kunst, mit minimalistischen Mitteln ein Höchstmaß an Wirkung zu erzielen. Als sich der Erwartete zögernd nähert, setzt sich der Zug in Bewegung. Durchs Gucklock sieht man, wie die Frau hinterher hastet. Was Gedeon mit diesen wenigen Elementen und ihrer kunstvollen Variation in der etwa zwölfminütigen, nahezu wortlosen Eingangssequenz anstellt, grenzt ans Wunderbare. Ohne eine erklärende Dialogzeile etabliert er die Eckpfeiler eines simplen und doch komplizierten Plots, indem er den Zuschauer zur aktiven Rezeption verführt: die amourösen Verstrickungen von zwei Brüdern und zwei Schwestern. Anna ist mit Emil verlobt, ohne sich ihrer Gefühle für ihn sicher zu sein. Als sie einen Monat in der Stadt verbringt, beginnt sie mit seinem Bruder Robert, dem zögernden Mann vom Bahnhof, eine Affäre, während sich Emil heimlich mit Annas Schwester Olga einlässt. Wie die scheinbar unverbundenen Szenen und Personen zusammenhängen, entdeckt man auf den Spuren Frantiseks, der im Zug Annas Bekanntschaft macht und zwei Tage vor Silvester in einer verschneiten böhmischen Kleinstadt landet. Auf der Suche nach seinen Verwandten - niemand anderes als Emils und Roberts Familie - stolpert er durch eine blinde Welt voller Missverständnisse, Verdächtigungen und uneingestandener Sehnsüchte und gerät in grausam komische, absurde Situationen, auf deren Überforderungen er meist mit Nasenbluten reagiert.
Dass der wortkarge "Idiot" dabei zur Projektionsfläche einer "idiotischen", von sich selbst völlig absorbierten Welt wird, reflektiert der Film durch zahlreiche cineastische Details, u.a. eine Vorliebe für Spiegel und Spiegelungen, die freilich nie von den Figuren, sondern höchstens vom Publikum wahrgenommen werden. Zwischen den Protagonisten regieren hingegen Blicke: distanzierte, abschätzende und argwöhnische, aber auch solche der Nähe und einer behutsamen Achtsamkeit, mit der die Figuren etwa immer wieder auf Schlafende schauen. Wer sich je für eine der philosophischen, psychoanalytischen oder filmtheoretischen "Blick"-Theorien interessierte, stößt hier auf eine wahre Fundgrube; aber auch wer sich unverkrampft dem nuancierten Spiel der Augen, Gesten und Gesichter überlassen kann, wird den mimischen Wandlungen und ihren Rätseln nur schwer entgegen. Die Perfektion, mit der Gedeon die kontemplativ entfaltete Geschichte mit einer dezenten Reverenz ans Medium durchsetzt und das Kino als Ort persönlich-intimer Anteilnahme ins Spiel bringt, fasziniert ebenso wie die erzählerische Ökonomie, die mit hochabstrakten Themen jongliert, ohne an Geschmeidigkeit oder Eleganz zu verlieren. Kein Wort, keine Einstellung, nicht die geringste Kamerabewegung erscheint zufällig, und doch atmet alles eine große Leichtigkeit, die bei aller Lust an der Mehrfachcodierung von einem - dezent gebrochenen - träumerisch-versonnenen Ton getragen wird. Die inszenatorische Souveränität spiegelt sich auch im ausgeprägten Stilwillen des Films wider, der neben einer hervorragenden Kamera auch über eine strenge Farbdramaturgie verfügt, in der Blau und Grün so dezent wie sorgfältig dominieren.
Als "postmodern" wäre der Film allerdings völlig falsch rubriziert, weil ihm nicht nur jeder Sinn für ironische Brechung fehlt, sondern er ganz im Gegenteil vom Glauben an die Kraft des Geschichtenerzählens durchdrungen ist. Die Verwandlung des "Idioten" in einen "normalen" Menschen beginnt fiktional im Traum Frantiseks von Olga, die ihrerseits als Katalysator das lähmende Beziehungsgeviert zwischen den Geschwistern sprengt, indem sie - angestoßen durch Frantiseks "unpassende" Kommentare - ihre eigenen Fixierungen relativiert. Dass auch das "normale" Publikum von dieser altmodisch-modernen Komödie begeistert ist und sie 1999 zum erfolgreichsten tschechischen Film machte, liegt an der Ernsthaftigkeit, mit der Gedeon den psychischen Kern seiner Figuren skizziert und alles Groteske daraus entstehen lässt. Am Ende, wenn wenigstens zwei der rastlosen Fluchtbewegungen zur Ruhe gekommen sind, beginnt man auch das Geheimnis der mysteriösen Leitmelodie zu erahnen, deren traumhafter Ton auch Momente der Unterbrechung und des Schmerzes kennt.
Filmlexikon / Josef Lederle
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